Ein zertanztes Leben

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Skandalös

Marie Stockhausen entführt in ihrem neuen Tanzstück Der blaue Engel in die Welt der 20er Jahre. Dabei trifft die Gier nach Leben auf verdrängte Kriegstraumen.

Schillernd, wild und voller Leben waren die 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Narben des Ersten Weltkrieges verblassten erst langsam, die Menschen setzten sich mit neuen Lebensgefühlen und politischen Experimenten auseinander. Vergnügungen wie Varieté oder Kino kamen nicht zu kurz.

Heute fast vergessen, damals jedoch eine Berühmtheit und Sinnbild dieses Jahrzehnts ist die Tänzerin Anita Berber. Gerade einmal 29 Jahre alt wurde die Künstlerin. In Marie Stockhausens neuem Tanzstück ist sie die zentrale Frauenfigur: die Varieté-Künstlerin, die den tyrannischen Gymnasialprofessor Unrat ins Verderben führt. Dieser ist bei seinen Schülern extrem unbeliebt. Eines Tages entdeckt er ein von ihnen verfasstes unsittliches Gedicht auf eine Tänzerin. Um sie zur Rede zu stellen, verfolgt er sie und landet in dem Vergnügungsetablissement Der blaue Engel, in dem die „Barfußtänzerin“ nicht nur seinen Schülern den Kopf verdreht. Schnell verfällt er selbst ihren Reizen und gelangt mehr und mehr ins gesellschaftliche Aus.

 

Das Innere und Verletzliche der Figuren

Mit der Darstellung der Welt des Varietés betritt Marie Stockhausen choreografisches Neuland. „Die Kunst des Varietés ist eine ganze eigene Kunst, die eine ganz eigene Art der Tänze und Bewegungen verlangt – diese besondere Atmosphäre möchte ich nicht nachahmen, das könnte ich gar nicht, sondern mein Ziel ist es, mit meinen eigenen Mitteln einen Ausdruck dafür zu finden.“

In diesem Zusammenhang spielt auch das Thema Nacktheit eine Rolle. Anita Berber selbst stand sehr bewusst zu ihrem Körper. Oftmals ließ sie die Hüllen während ihrer Auftritte fallen. „Dennoch hat sie von ihrem Publikum stets verlangt, sie nicht darauf zu reduzieren, sondern ihr Inneres, das sie ausgedrückt hat, hinter ihrem Tanz zu erkennen“, erklärt die Choreografin. Ebenso bedeutet die Nacktheit in Der blaue Engel keinen Skandal, sondern sie zeigt das verletzliche Innere der Figuren.

Brigída Pereira Neves verkörpert Anita Berber auf der Kammerspielbühne. „Die Nacktheit war eine neue Erfahrung für mich, mit der ich erst lernen musste, umzugehen“, sagt die Tänzerin. Je nach Stimmung und Gefühl komme sie damit anders zurecht. „Ich sage mir immer, es sind verschiedene Ebenen der Nacktheit, die mein Kostüm sind.“ Mit Anita Berber hat sie sich im Rahmen der Probenarbeit intensiv auseinandergesetzt. „Sie war eine interessante Frau, deren Lebensstil ich mir heutzutage aber schwer vorstellen kann“, resümiert Pereira Neves. Drogen, Eskapaden, verschiedene Beziehungen und Skandale prägten Berbers kurzes Leben. „Ich will aber Anita keineswegs verurteilen. Sie lebte in ihrer Zeit mit ihren Herausforderungen, und das versuche ich auf der Bühne zu zeigen.“

Obwohl eine fiktive Romanfigur ist auch Professor Unrat im Stück höchst lebendig und vielschichtig. Getanzt und gespielt wird er von Gabriel Marseglia, der die Rolle besonders wegen seiner emotionalen Aspekte spannend findet. „Ich durchlebe in kurzer Zeit viele Gefühle, von Freude und Verliebtsein über Wut und Angst ist alles dabei. Der Professor verändert seinen Charakter ständig. Das ist für mich als Tänzer etwas Neues.“ Darin liege der Reiz und die Herausforderung der Rolle, so Marseglia.

 

Niedergang eines rauschenden Daseins

Ein weiteres Gemälde von Otto Dix wird bei Marie Stockhausen lebendig: die Irrsinnige. Die Sängerin Greta Marcolongo unterstreicht als ihr Ebenbild mit ihren einfühlsamen Interpretationen berühmter Songs die verirrten, umherirrenden Sinne und Seelen der zentralen Figuren – neben Professor Unrat und Anita Berber ist dies vor allem auch der Maler Otto Dix selbst, dem Nicola Strada tänzerischen Ausdruck verleiht.

Katajun Peer-Diamond als Co-Librettistin und Andrea Kuprian als Ausstatterin komplettieren das Regieteam. So entsteht aus Heinrich Manns Geschichte um den tragischen Niedergang einer bürgerlichen Existenz, dem rauschhaften Dasein einer Tänzerin und den faszinierenden Geschöpfen eines lebensgierigen Malers mit der Tanzcompany des Tiroler Landestheaters ein ganz eigener Blick der Choreografin Marie Stockhausen auf die Zerrissenheit einer Zeit ohne Zukunft.

© Ines Burkhard

 

Der blaue Engel

Tanzstück von Marie Stockhausen. Libretto von Marie Stockhausen und Katajun Peer-Diamond.

Uraufführung / Premiere am 30.03.2019

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