Werther wird nicht alt

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Die ultimative Tragödie der Neuzeit wird in der Innsbrucker Inszenierung in die kleinbürgerliche Scheinidylle der US-Vorstadt verlegt – und verströmt einen Hauch von Hollywood-Drama.

Stürzt Werther das Publikum mit ins Verderben? Die seit jeher hitzig geführte Diskussion um die befürchtete Nachahmung des wohl berühmtesten Freitodes der Literatur- und Operngeschichte lässt Thaddeus Strassberger gar nicht aufkommen. „Wer die Serie Breaking Bad gesehen hat, glaubt auch nicht zwingend, dass eine Drogenküche die beste Antwort auf eine Krebsdiagnose ist.“ Für den US-amerikanischen Regisseur und Bühnenbildner ist es auch nicht unbedingt der Selbstmord des Protagonisten, der seine Inszenierung von Jules Massenets Werther-Oper am Tiroler Landestheater zu einer eindringlichen Erfahrung machen soll. Denn der letzte Ausweg Werthers ist lediglich einer von vielen möglichen Ausbruchsversuchen aus dem engen Korsett einer kleingeistigen Gesellschaft.

Werther ist für Strassberger keine Dramaqueen, kein Narzisst und schon gar kein psychisch Kranker. „Werther denkt zu viel, und das ist in der Welt, in der er lebt, gefährlich. In seinem Kopf tobt ein Sturm von Gefühlen, Ideen und Poesie.“ Der Freiheitsdrang und der überschwängliche Liebesdurst finden ihr Ende in einer blutigen Tragödie.

„Ich war als Kind wie in einem Gefängnis – ich
brauchte Kunst, Kino und Theater, um einen Weg
aus dieser emotionalen Höhle zu finden.“

Thaddeus Strassberger, Regisseur & Bühnenbildner

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© Amir Kaufmann

Werthers Welt, das ist in Strassbergers Inszenierung die amerikanische Vorstadt – wo jeder jeden kennt, wo der Garten ein öffentlicher Raum ist, wo zwischen Arbeit, Gottesdienst und Barbecue nichts existieren kann und darf. Zu diesem Setting hat der Regisseur starke Bezüge. „Ich war als Kind wie in einem Gefängnis – ich brauchte Kunst, Kino und Theater, um einen Weg aus dieser emotionalen Höhle zu finden.“ Die Bühne ist eines der typischen Retorten-Einfamilienhäuser, wie sie zu Aberhunderten immer noch die Suburbs prägen.

Die Handlung wird grob in die 1960er-Jahre verlegt. In eine Zeit, die zwar nah, aber nicht mehr greifbar ist – und die gerade auch durch Hollywood einen magischen Glanz in der Erinnerung behalten hat. „Die 60er sind nur der Hintergrund, nicht das Thema selbst“, betont Strassberger. „Es ist eine märchenhafte Zeit, deshalb ist Fantasie erlaubt.“ Auch bei den Requisiten, die manchmal nicht historisch passgenau sein müssen. Der Ball, bei dem Werther zum ersten Mal Charlotte zum Tanz bittet, wird zum Highschool-Prom mit glitzerndem Disco-Licht.

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Was sich im Vergleich zur ursprünglichen Opernfassung nicht ändert, ist freilich die tragische Liebe Werthers zu Charlotte, die von deren Mutter einem anderen versprochen ist. Warum wählen sie nicht die Freiheit, warum überwindet das Paar die Hindernisse ihrer Liebe nicht? „Das ist zutiefst menschlich, wir alle sind auf irgendeine Art und Weise blockiert“, sagt Strassberger. „Im Grunde genommen wissen wir ja ganz genau, was wir eigentlich tun sollten.“ Aber oft genug machen wir dann etwas ganz anderes. „Wer weiß etwa nicht, dass Abnehmen ganz einfach ist: weniger essen und mehr Sport. Aber so einfach ist es nicht immer. Menschen sind eben kompliziert.“

Das Geschehen um die unmögliche Liebe, die Werther letztlich sein eigenes Ende herbeiführen lässt, ist für den Regisseur nicht zu dick aufgetragen. „Wir sind nun einmal dramatische Wesen. Das Verdienst von Werther ist auch, dass er zeigt, wie stark menschliche Emotionen sein können.“ Die Hauptfigur möchte kein oberflächliches und gefühlloses Leben leben. Aus dieser Perspektive könne Werther gar als inspirierendes Vorbild dienen. Nicht unbedingt aufgrund seines Handelns, sondern als kompromisslos gefühlsbetonter Charakter.

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Mit seiner Inszenierung möchte Strassberger ein breites Publikum ansprechen. „Bei unserem Werther kann jeder ohne Vorbereitung in die Vorstellung kommen. Das Stück ist packend und fließt wie eine Netflix-Serie.“ Packend ist auch die Komposition. Die Musik ist sehr melodiös, voller Emotionen und unglaublich mitreißend. „Die Stücke sind einfach anzuhören und wunderschön“, heizt Strassberger die Vorfreude zusätzlich an. „Die einzelnen Leitmotive lassen sich deutlich heraushören. Man spürt sofort, welches Thema behandelt wird.“ Am Ende beschließt der Kinderchor des Landestheaters die schreckliche Szenerie mit einem gekonnt vorgetragenen Weihnachtslied.

Anders als in der Vorlage umgibt den Tod Werthers in der Innsbrucker Operninszenierung eine gewisse Rätselhaftigkeit. Strassberger will im Vorfeld nicht zu viel verraten – aber auch bei Werthers Abgang spielt wieder die Aura der 60er-Jahre eine große Rolle. Hier darf dann durchaus mit den mysteriösen Todesfällen von Filmstars wie James Dean oder Natalie Wood kokettiert werden.

Die Innsbrucker Inszenierung des Werther verspricht eine dynamische und erfrischende Interpretation eines Stoffes zu werden, der seit dem Erscheinen von Goethes Die Leiden des jungen Werthers im Jahr 1774 die Menschen zutiefst bewegt. „Ich bin kein Regisseur, der erklärt, was das Stück bedeutet“, stellt Strassberger klar. „Der Text und die Musik lösen bei mir eine intensive emotionale Reaktion aus. Dieses Stück ist meine Perspektive auf das Werk.“ Es gebe keine perfekte oder die eine, einzig richtige Inszenierung. „Aber gerade bei Werther ist wichtig, dass Leidenschaft die Triebfeder ist.“

 

Text: Martin Lugger
Fotos: Birgit Gufler, Amir Kaufmann

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Werther

Lyrisches Drama von Jules Massenet . Text von Édouard Blau,
Paul Milliet und Georges Hartmann nach dem Roman von
Johann Wolfgang von Goethe

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