Regisseur Johannes Reitmeier im Gespräch mit Dramaturgin Susanne Bieler.
The Rape of Lucretia (Die Schändung der Lucretia) ist ein nicht gerade einladender Titel für eine Oper. Im Mittelpunkt steht Lucretia, die Frau des römischen Feldherrn Collatinus. Ihre Schönheit und Tugendhaftigkeit werden ihr zum Verhängnis, denn sie wird Opfer einer Vergewaltigung durch den Tyrannensohn Tarquinius. Was sagen Sie, Herr Reitmeier, den Zuschauer*innen, um sie zum Besuch dieses Werks zu bewegen? Zunächst einmal ist die Geschichte des Musiktheaters ja reich an dramatischen Sujets, denen es an expliziten Gewalttaten nicht mangelt. Auch Gewalt an Frauen wird auf der Opernbühne oft thematisiert, nur leider nicht selten in verbrämter, auch verharmlosender Form. Britten dagegen war es wichtig, dass die brutale Tat des Tarquinius auch titelgebend für sein Werk sein würde. Dennoch ist seine Oper kein Fanal der Grausamkeit, sondern ein sehr fein- und tiefsinniges Werk ohne jeden oberflächlichen Effekt. Dazu schuf Britten eine großartige Musik, die meiner Meinung nach zu seinen besten Kompositionen zählt.
Der Stoff stammt aus der Antike. In seiner Opernversion hat Britten durch die Figuren der Erzählerin und des Erzählers seine Gegenwart des Jahres 1946 als zusätzliche Ebene eingefügt. In welcher Zeit verorten Sie das Geschehen in Ihrer Inszenierung? Zahlreiche Debatten in unserer jüngsten Vergangenheit, insbesondere auch die #metoo- Bewegung, haben unser Bewusstsein geschärft für diskriminierendes und verletzendes Verhalten gegenüber Frauen. Auch in der vorliegenden Geschichte haben wir es mit einer männlich dominierten Welt voller sexualisierter Verhaltensmuster zu tun – exemplarisch demonstriert am rücksichtslosen Macho-Gehabe des Prinzen Tarquinius. Gleichzeitig wird in Lucretia das Porträt einer klugen, willensstarken und prinzipientreuen Frau mit durchaus heutigen Zügen gezeichnet. Deshalb habe ich mich entschieden, meine Inszenierung in die Gegenwart zu verlegen.
Warum begeht eine selbstbewusste Frau wie Lucretia am Ende Selbstmord? Die Erfahrung zeigt, dass Opfer von Vergewaltigung nicht nur an den physischen Folgen des Verbrechens, sondern vor allem an psychischen Traumata und seelischen Verwundungen leiden. Dazu kommt oft auch eine völlig irrationale gesellschaftliche Ächtung der Opfer. Lucretia will mit dem Suizid den Verlust ihrer Ehre verhindern und sich gleichzeitig offenbar – trotz Freispruch durch ihre Umwelt – bestrafen, weil sie sich eine Mitschuld an ihrer „Schande“ gibt. Gleichzeitig stirbt sie für ihr Ideal einer unerschütterlichen Treue.
Text: Susanne Bieler
Fotos: Birgit Gufler
The Rape of Lucretia
Oper von Benjamin Britten. Text von Ronald Duncan nach einem
Schauspiel von André Obey. In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln.