
Virginia Woolfs Roman Orlando ist ein genreübergreifendes Wunderwerk. Mit den Mitteln von fiktional biografischen und Science-Fiction-Elementen gerät es zur epochalen, genderfluiden und geistreichen Liebeserklärung an das Leben. Die Hauptperson Orlando wird im Laufe der Erzählung vom Mann zur Frau und lebt über mehrere Jahrhunderte, ohne maßgeblich zu altern. Publiziert wurde das schon zur damaligen Zeit erfolgreiche Buch im Jahr 1928.
Orlandos Geschichte beginnt gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Im elisabethanischen England wird der schöne junge Adlige zum Günstling der Königin. Zum Ende des Buches, rund 300 Jahre später, ist Orlando, mittlerweile eine Frau, gerade mal 36 Jahre alt. Charakteristisch für die Hauptfigur sind ihre vielseitigen Interessen und Begabungen, die zahlreichen Facetten ihrer Person, ständig hin- und hergerissen zwischen dem vornehmen Leben am Hof, der Sehnsucht nach Rückzug in die Natur und der Liebe zur Lyrik und Poesie – Orlando hegt den intensiven Wunsch zum Schreiben, der sich jedoch nicht so einfach einlöst. Hier äußert sich eine Verbindung zur Schöpferin des Romans. Virginia Woolf lebte in einer Zeit, in der es als Frau alles andere als selbstverständlich war, Bücher zu schreiben, geschweige denn, davon zu leben. Vorbild für die Figur Orlando – denn es handelt sich hier ja um eine fiktive Biografie – war Woolfs damalige Geliebte und langjährige enge Bezugsperson Vita Sackville-West. Die Autorin schmückte die Erzählung mit grenzenloser Fantasie, Einfallsreichtum und entwaffnender Lust an der Auflösung gesellschaftlicher Konventionen aus. Nachfolgend ein kleiner Überblick über die Gesichter, Zustände und gelebten Zeitepochen Orlandos:

Ab ca. 1588 bis Ende 17. Jahrhundert: Elisabethanisches Zeitalter über Puritanismus bis Frühromantik
Orlando lebt als junger Adliger und Günstling der Königin am Hof. Er ist der Natur und Poesie verbunden, wird Zeuge der kleinen Eiszeit und erlebt romantische Sehnsucht sowie die erste Enttäuschung in Sachen Liebe. Darauf folgt der Rückzug aus der Gesellschaft und die Arbeit an seiner Lyrik – er lebt zwischen Einsamkeit und Kreativität. Dann, um ca. 1680, erfolgt ein einschneidender Standort- und Tätigkeitswechsel: Orlando wird auf eigenen Wunsch britischer Diplomat in Konstantinopel (heute Istanbul) und überlebt dort den Aufstand gegen den Sultan, indem er in einen siebentägigen Schlaf verfällt und wie tot erscheint.

Ab ca. 1700: Spätbarock, Rokoko und Aufklärung
Nach dem langen Schlaf erwacht Orlando als Frau und existiert fortan in einem weiblichen Körper, jedoch als derselbe Mensch. Nach einem Exkurs in die Welt der Nomaden und die Natur in der Türkei folgt die Rückkehr nach England, nun als Lady Orlando, was zur Reflexion über die Rolle der Frau und gesellschaftliche Ungleichheit führt.
Ca. 1800: Viktorianische Epoche
Orlando lebt nun als Schriftstellerin, beugt sich jedoch dem Druck des Zeitgeistes und heiratet ihre große Liebe, einen Seemann mit dem schillernden Namen Marmaduke Bonthrop Shelmerdine. Fortan sucht sie nach der Balance zwischen Liebe und Unabhängigkeit, behält aber ihre Individualität und schreibt weiter. Dass ihr Mann über Jahre hinweg das Kap Hoorn umsegelt, hilft sicherlich dabei!

1928: Moderne
Orlando reflektiert über all seine und ihre gelebten Ichs – jung, gealtert, männlich, weiblich, über diverse Zeitalter und in unterschiedlichen Konventionen, im Reichtum des Adels und in der Bescheidenheit der Natur. Sie erhält mittlerweile offizielle Anerkennung für ihr Schreiben und hat zu sich gefunden, ist sozusagen befreit und bereit für die Ewigkeit – vielleicht den Tod? Wir schreiben 1928, das Erscheinungsjahr des Romans.