Verismo und Dodekaphonie

Die Uraufführungen von Pagliacci 1890 und Von heute auf morgen 1930 liegen nur 40 Jahre auseinander. Obwohl die beiden Stücke inhaltlich vieles verbindet, spiegeln sich in ihrer Musik und Dramaturgie die unterschiedlichen Entstehungszeiten und deren Themen wieder. Der Chefdirigent des Tiroler Landestheaters Gerrit Prießnitz über die Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Werke.
«Pagliacci» ist ein Kernstück des Verismo, was zeichnet diesen besonderen Stil der italienischen Oper aus?
Gerrit Prießnitz Allgemein gilt der vom Mailänder Verlag Sonzogno erstmals im Jahr 1883 ausgeschriebene und bei der zweiten Auflage 1889 von Pietro Mascagni mit Cavalleria Rusticana gewonnene Kompositionswettbewerb als musikhistorische Inititalzündung für diese Stilrichtung. Edoardo Sonzogno war ein gewiefter Geschäftsmann – er griff auf, was mit Naturalismus und Heimatdichtung auch literarisch in der Luft lag und bescherte seinem Verlag u. a. mit den Rechten an Bizets Carmen enormen ökonomischen Erfolg. Künstlerisch zeichnet sich der Verismo in erster Linie dadurch aus, dass er die Oper aus der Welt der Mythologie, der Königshäuser, Götter und historischer Ferne in ein greifbares Hier und Heute holte. Die schillernde Welt des fahrenden Zirkusvolks in Pagliacci vereint Handlungen, die sich sowohl in geographischer Nähe als auch in alltäglichen Milieus bewegen, mit einer emotional sehr direkt ansprechenden, plastischen, ganz auf den theatralisch-sinnlichen Effekt zielenden Musik.
«Von heute auf morgen» gilt als erste Oper in Zwölftontechnik. Wie funktioniert diese Kompositionsweise?
Richard Strauss hatte in Elektra die Grenzen der Tonalität mit erweiterten Harmonien und nicht aufgelösten Dissonanzen in gewisser Weise ausgereizt. Wollte man diesen Weg nicht nur manieristisch weiter verfeinern, bedurfte es einer historisch wirklich bahnbrechenden Neuerung. Versuche, die Tonalität vollkommen frei zu behandeln, wie dies Arnold Schönberg schon in seinen Klavierstücken op. 11 und op. 19 tat, mündeten schließlich in eine neue, von ihm entwickelte Systematik: Die der absoluten Gleichbehandlung aller zwölf Töne der chromatischen Skala. Der Fachbegriff dieses Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen (anstelle der bis dahin «gültigen » Funktionsharmonik) lautet Dodekaphonie. Schönberg hat auch in verschiedenen theoretischen und ästhetischen Schriften diese von ihm entwickelte Kompositionstechnik genau dargelegt.


Beide Opern kreisen um Beziehungsthemen wie Ehebruch, Eifersucht und zwischenmenschliche Machtkämpfe. Auf welche Weise werden sie jeweils erzählt?
Ruggero Leoncavallo greift ganz tief in die Trickkiste der musikalischen Emotionen! Seine Protagonistin Nedda träumt sich in flirrenden Streicherfiguren mit dem Flug der Vögel fort in eine bessere Welt, in dunklen, schweren Akkorden sinniert Canio über die tragische Spannung zwischen seiner lachenden Clownsmaske und der Düsternis seines wahren Lebens, Glockengeläut ruft die Landbevölkerung zum Abendgebet – pralles Leben in Musik gepackt! Bei Schönbergs Oper ergibt sich dagegen ein besonders spannender Kontrast aus einem bewusst in geradezu lakonischer Alltagssprache gehaltenen Libretto und der expressionistisch aufgeladenen, atonalen Musik, die auch von der Instrumentierung her mit Saxophonen, Mandoline, Klavier farblich weit ausgreift. Während Librettist(in) Max Blonda, ein Pseudonym für Schönbergs Ehefrau Gertrud, das Ehepaar Sätze wie «Ach, ich glaube, die Milch ist angebrannt. Willst Du nicht nachsehen?» singen lässt, wechseln im Orchester rhythmisch vertrackte, regelrecht zersplitterte Passagen mit verdichteten Zuspitzungen, die dann wieder jäh in sich zusammenfallen, ab. Eine enorm anspruchsvolle Partitur!
«Pralles Leben in Musik gepackt!»
Welche Wechselwirkung wird sich zwischen den beiden Stoffen entwickeln?
Interessanterweise dirigiere ich nun zum dritten Mal Pagliacci, aber noch nie in der üblichen Verbindung mit Cavalleria Rusticana. So sehr die Kopplung dieser beiden Opern historisch Sinn macht, so spannend finde ich doch auch, wie ein so sinnlich-veristisches Stück in Beziehung zu gänzlich anderen Stilen treten kann. Natürlich ist die offenkundige inhaltliche Klammer die Ehekrise der beiden Paare «Canio – Nedda» bzw. «Der Mann – Die Frau» und der Reiz des Neuen, des Verbotenen, der Verliebtheit. Doch während es bei Schönberg letztlich ein Geplänkel im heimischen Wohnzimmer, ein Spiel mit der Eifersucht auf gewohntem Terrain bleibt, geht Pagliacci ja in einem hochdramatischen Finale auf der großen Zirkusbühne wirklich tödlich aus. So finden die musikalischen Stilkontraste auch ihr Handlungspendant.
FRAGEN Diana Merkel
«Ruggero Leoncavallo greift ganz tief in die Trickkiste der musikalischen Emotionen!»