Macht und Legitimation

   Blogbeitrag

Soziale Spannungen, gesellschaftliche Umbrüche, Machtkämpfe und Intrigen sind die zeitlosen Zutaten für ein mitreißendes russisches Operndrama.

Mit Boris Godunow präsentiert uns Regisseur und Ausstatter Thaddeus Strassberger einen russischen Opern-Klassiker des jungen Mussorgsky, der die zuvor von Puschkin dramatisierten Geschehnisse rund um den umstrittenen Zaren zur „Zeit der Wirren“ um 1600 zum Inhalt hat – mitreißend und hochemotional.

„In Boris Godunow bekommen wir keinen Herrscher zu sehen, wie er sich selbst vielleicht gerne gesehen hätte“, erklärt Strassberger. „Stattdessen können wir ein wenig hinter die Fassade schauen und blicken auf eine Episode der russischen Vergangenheit, die sehr vielschichtig und kompliziert ist.“ Die Handlung bezieht sich auf ein bewegtes Kapitel der Geschichte Russlands, das fünf Regenten in nur 15 Jahren auf dem Thron sah und von Hungersnöten, Machtkämpfen und Aufständen geprägt war.

„Die Oper ist voll von zutiefst menschlichen Gefühlen
und komplexen ethischen Fragen, die unser Verständnis davon
erweitern können, wie intensiv wir heute auf der
Welt miteinander verbunden sind.““

Thaddeus Strassberger, Regie & Ausstattung

video - Titelbild

Ungeschliffene Urfassung

Das Tiroler Landestheater bringt nun die Erstfassung der Oper aus dem Jahr 1869 auf die Bühne, deren Stärken zur Entstehungszeit zunächst kaum erkannt wurden und der zahlreiche Umarbeitungen folgten. Der „Ur-Boris“ musste gar bis 1929 auf seine Premiere warten. „Die ursprüngliche Fassung ist ungeschliffen und frisch“, zeigt sich Strassberger von ihrer rohen Intensität begeistert. „Die kleinen Ungereimtheiten, die das Werk eines gierigen, aufstrebenden Künstlers aufweist, sind viel spannender als die polierte Perfektion der späteren Versionen. Die Tatsache, dass so viele andere Komponisten an diesem Werk herumgebastelt haben, ist für mich keine Schwäche der Oper. Es zeigt vielmehr ihre Stärke, dass sie so viele talentierte Menschen über viele Jahre inspirieren konnte.“

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Wie auch bei seiner Werther-Inszenierung (2021), die in den USA der 1960er angesiedelt war, strebt Strassberger bei Boris Godunow keine historische Authentizität an. „Manchmal kann die Übertragung des Originals in eine andere Zeit oder an einen anderen Ort bestimmte Facetten des Werks klarer und deutlicher zur Geltung kommen lassen“, so Strassberger. Boris Godunow sei vor allem durch soziale Unruhen und Unsicherheit geprägt. „Die so genannte ‚Zeit der Wirren‘ von 1598 bis 1613 materialisiert sich bei mir auf der Bühne in Form eines metaphorischen Raums“, erläutert der Regisseur. „Es ist ein Ort voller Geheimnisse, mit verblasstem Ruhm, Glanz und Gloria, bitterster Armut und einer Mittelschicht, die das Gefühl hat, alles zu verlieren, was sie sich erarbeitet hat – und ‚Medien-Clowns‘, die mehr an Unterhaltung als an Information interessiert sind.“

Das Erzählungsgeflecht rund um einen zerrissenen Herrscher mit unklarer Legitimation und tragischem Ende lässt viele Fäden offen, die mit der Gegenwart verknüpft werden können. „Geht die Macht vom Volke aus? Oder sind es vielmehr die Herrschenden, die die gesellschaftliche Situation nach ihren Vorstellungen gestalten? Woher beziehen wir unsere Wahrheiten – von religiösen Führern, unseren Familien oder von Politiker*innen? Werden wir von anderen zu Gewalt und Krieg gezwungen oder sind wir Opfer unserer selbst?“ Die Frage, ob der Zar ein Mörder, Tyrann oder selbst Opfer sei, ist für Strassberger zweitrangig. Es gehe vielmehr darum, wie dieser wahrgenommen werde. „Der Hauptcharakter der Oper ist nicht Boris Godunow, sondern das Volk. Die gleiche Frage über die kollektive Seele zu stellen, ist für mich viel interessanter.“

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BORIS GODUNOW

Oper von Modest P. Mussorgsky.
Text vom Komponisten nach Alexander S. Puschkin und Nikolai M. Karamsin.
Urfassung von 1869.

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