Von Lebenslügen und dem Prinzip Hoffnung

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Engel in Amerika spielt in den 80er-Jahren und erzählt vom 30-jährigen Prior, welcher an AIDS erkrankt und daraufhin von seinem jüdischen Freund Louis verlassen wird. Die beiden sind aber nicht die einzigen faszinierenden Charaktere, welche schicksalhaften Zeiten entgegengehen.

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Der Anwalt Joe Pitt etwa lebt zwar mit seiner Frau Harper in strenger mormonischer Ehe, aber mit Louis entdeckt er seine unterdrückte Homosexualität. Oder Roy Cohn, machtbesessener Drahtzieher der New Yorker Republikaner und Joes Arbeitgeber, der sich von seinem Hausarzt lieber Leberkrebs diagnostizieren lässt, als einzugestehen, dass er AIDS hat. Es war und ist der berühmte Spiegel, welcher der amerikanischen Gesellschaft – und nicht nur dieser – vorgehalten wurde und wird.

Tony Kushners monumentales Werk, das im Original aus zwei Teilen besteht, die für sich genommen jeweils einen vollwertigen Theaterabend bilden. Regisseur Felix Hafner hat daraus einen mitreißenden Theaterabend gemacht: Engel in Amerika.

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Wie sich Veränderungen auswirken (können)

Seit Jahrzehnten fasziniert der Stoff – und hat auch Hafner völlig in seinen Bann geschlagen. Ausgiebig hat er sich mit dem Text, den Figuren und Themen auseinandergesetzt. Die Motive sind jedes für sich äußerst komplex: AIDS (und die Ignoranz der Reagan-Regierung gegenüber der Epidemie), Homosexualität, politische Korruption, Umweltschutz, Zukunftsängste im Hinblick auf die bevorstehende Jahrtausendwende oder auch Engelserscheinungen.

„In der im Stück beschriebenen Zeit der 1980er-Jahre ist viel im Umbruch und die Problematiken sind divers – so fordert etwa die AIDS-Pandemie die Menschen ebenso heraus wie der aufkommende Neoliberalismus der Reagan-Ära. Niemand weiß, wie genau diese Veränderungen am Ende aussehen und sich für jede*n Einzelne*n auswirken werden. Die Ungewissheit ist groß und wird auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt. Eine Frage, die sich alle Figuren aus dem Stück stellen müssen und die sich im besten Falle auf das Publikum überträgt, lautet: Soll man mit den Veränderungen mitgehen oder soll man versuchen, diese einzubremsen?“, meint der Regisseur. Um den Fokus nicht unnötig zu verschieben, haben sich er und die Ausstatterin Elisabeth Weiß für ein schlicht gehaltenes Bühnenbild entschieden, das einzig durch einen fahrbaren Lichtplafond geprägt ist. So stehen jeweils die Figuren mit ihren Konflikten und Gedanken im Mittelpunkt.

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Tony Kushners Gesellschaftsdrama erzählt aber auch von Aufbruch und Hoffnung. „Es gibt viel zwischenmenschliche Wärme in diesem Stück. Das Leben mit all seinem Schmerz, der Trauer und den unergründlichen Schicksalsschlägen wird angenommen, weil es sich dennoch lohnt – und weil es Menschen gibt, die sich gegenseitig beistehen. Das wollen wir nicht nur über den Text transportieren, sondern auch über Bilder“, fasst Hafner zusammen. Und genau diese Gegensätze, die Widersprüchlichkeit und Komplexität der vielen Aspekte, die Engel in Amerika thematisiert, entwickeln sich zu einem regelrechten Sog, der sich auch auf das Publikum überträgt.

Text: Patrizia Reppe-Pichler
Fotos: Amir Kaufmann


Engel in Amerika. Die Jahrhundert­wende naht

Schauspiel von Tony Kushner . Deutsch von Frank Heibert

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