Aufflackern. Wenn drei Menschen auf engstem Raum
ausharren müssen, bröckeln Moral, Ethik und
Verstand – und der Mensch kann zum Tier werden.
Es ist ein bis heute ungelöstes Rätsel, was damals im Jahr 1900 auf den Flannan Isles vor Schottland passierte. Auf der Hauptinsel steht ein Leuchtturm, welcher die Schiffe durch die unruhigen Gewässer lotsen soll. Als das Versorgungsschiff „Hesperus“ nach dem Rechten sehen wollte, fanden die Besatzungsmitglieder einen völlig intakten Leuchtturm vor. Doch von den drei Leuchtturmwärtern fehlte jede Spur. Bis heute ranken sich Mythen und Legenden darum, was mit den drei Männern wohl geschehen sein mag. Diese historische Begebenheit liegt der Kammeroper Der Leuchtturm von Peter Maxwell Davies zugrunde.
In einem Prolog werden drei Offiziere vor einem Gericht befragt. Sie fanden den Leuchtturm einer Insel verlassen vor, obwohl dort eigentlich drei Leuchtturmwärter hätten sein sollen. Schon bei der Einvernahme zeigt sich: Jeder der drei Zeugen scheint die Geschehnisse anders im Gedächtnis zu haben. In einer Rückblende reist der Zuschauer zu jenem Leuchtturm. Die drei Leuchtturmwärter Sandy, Blazes und Arthur sitzen bei einer stürmischen Witterung im Leuchtturm fest. Schon seit Monaten warten sie auf engstem Raum auf ihre Ablöse, die einfach nicht kommt. In dieser Enge, ohne Privatsphäre, ist die Stimmung sichtlich angespannt. Um sich die Zeit zu vertreiben, spielen die drei Karten und singen Lieder aus ihrer eigenen Vergangenheit. Doch Einsamkeit und sinkende Moral beschwören den Wahnsinn und innere Konflikte der Männer herauf. Am Ende ist niemand mehr sicher, was nun eigentlich Realität, Traum oder überhaupt passiert ist. Eine Frage, die auch das Publikum nicht einfach beantwortet bekommt. Der Leuchtturm ist eine Kammeroper mit einer höchst komplexen Komposition. Die Musik untermalt die Emotionen und Szenen, wirkt als dramaturgisches Mittel und interagiert sogar mit den Figuren.
„Man fühlt mit den Figuren mit – und
begreift, wie nahe der Mensch manchmal am Tier ist.“
Kai Anne Schuhmacher
„Das Werk macht Zeit fühlbar“, erklärt Regisseurin Kai Anne Schuhmacher. Das quälende Warten auf engstem Raum im Leuchtturm nagt an den drei Kameraden. „Die Geschichte ist vielschichtig und äußerst spannend. Wort und Musik bilden eine Sprache, in der die psychologischen und emotionalen Momente klar beschrieben sind. Dennoch bin ich als Regisseurin frei, die Figuren zu deuten – welchen Hintergrund und was für einen Charakter sie haben.“ Denn wie im historischen Fall vor 120 Jahren gibt die Kammeroper keine Antwort darauf, was denn nun wirklich im Leuchtturm passiert ist. „Es werden viele Fragen gestellt, aber am Ende bleibt alles offen. So sind die Zuschauerinnen und Zuschauer gefragt, ihre Deutung der Geschichte zu finden“, meint Schuhmacher. Als Regisseurin hat sie zwar konkrete Vorstellungen von der Umsetzung, bezieht aber gleichwohl die Sänger immer in die Regiearbeit mit ein. „Da wir ein so kleines Team sind, können wir selbst feine Details in Ruhe gemeinsam besprechen. Dadurch befruchten sich unsere Ideen auch gegenseitig“, erklärt die Regisseurin. Bassist Johannes Maria Wimmer spielt den Leuchtturmwärter Arthur. „Er ist ein tiefgehender und ambivalenter Charakter. Auf der einen Seite findet er in seiner Pseudoreligiosität Halt, auf der anderen Seite hortet er Lebensmittel und gönnt sich Privilegien, welche die anderen seit Monaten nicht mehr haben“, beschreibt der Sänger seine Figur. Auch wenn das Stück mit eineinhalb Stunden Laufzeit recht kurz ist, so ist die Arbeit und Vorbereitung damit nicht geringer als bei anderen Opern.
„Ob Verdi-Aufführung oder Kammeroper, ich setze mir denselben hohen Anspruch und versuche, meine Rollen mit Leben zu erfüllen“, sagt Wimmer. Für den Zuschauer sind Kammeropern vor allem durch ihren intimen Charakter in ihrer Wirkung unmittelbarer. „In diesem Werk stellt sich schnell die Frage, wie der Mensch auf engstem Raum mit Zwängen und Ängsten umgeht und was ihn letztendlich dann vom Tier unterscheidet“, fasst Wimmer zusammen. Den inneren Zerfall versuchte Michael D. Zimmermann auch im Bühnenbild nachzuempfinden. „Statt eines voll funktionsfähigen Leuchtturms findet man nur noch eine halbe Ruine vor“, erklärt der Bühnenbildner. Halb verfallen und nur noch mit dem Nötigsten ausgestattet, wird jeder Gegenstand zum Luxusgut. „Eine Plastikplane hat plötzlich einen anderen Wert“, sagt Zimmermann. Die sich psychologisch immer weiter zuspitzende Situation spiegelt sich überall wider. Auch wenn die drei Männer sich aneinanderklammern, so sind sie doch am Ende dem Untergang geweiht. „Obwohl es eine so absurde Situation ist, in die die meisten Leute nie kommen würden, erkennt man sich selbst. Man fühlt mit den Figuren mit, spürt die Anspannung unter den dreien – und begreift, wie nahe der Mensch manchmal am Tier ist“, resümiert Schuhmacher.
Text: Ines Burkhardt
Fotos: Birgit Gufler